Auf Schatzsuche in Leningrad
Sir Walter Citrine begann ein Buch über seine Reise durch die Sowjetunion mit der Bemerkung, daß in der Badewanne seines Hotels in Leningrad kein Stöpsel gewesen sei. Vermutlich, so fuhr er fort, würden viele Leute ihn aufgrund dieser Bemerkung für nicht objektiv halten, doch sei ihm persönlich immer der fehlende Badewannenstöpsel symptomatisch gewesen für alles, was er später in Rußland sah und erlebte.
Mir erging es ähnlich mit dem Matsch des Flughafens und der allgegenwärtigen Intourist-Fremdenführerin. Wahrscheinlich war die Führerin nicht allgegenwärtiger als der Matsch, doch konnte man diesen wenigstens abkratzen. Zusammen betrachteten wir die Sehenswürdigkeiten: das Winterpalais, die Eremitage, das Ballett, Zarskoje Selo, Peterhof. Drei Tage lang wich sie nicht von meiner Seite und erklärte mir alles in tiefgründigen marxistischen Wendungen. Sogar die Tatsache, daß in Peterhof die Springbrunnen außer Betrieb waren.
»Es geschieht, damit die Arbeiter während der Woche mehr Wasser bekommen. Sonntags, wenn die Arbeiter frei haben (und sich wahrscheinlich nicht waschen), funktionieren die Springbrunnen herrlich.«
Leningrad bedrückte mich. Zu beiden Seiten der Hauptstraßen lagen große gelbe Steinpaläste, deren vorhanglose Fenster grollend und anklagend auf die Vorübergehenden starrten. Die Straßen selber waren fast leer, und die wenigen Menschen, mit denen man ins Gespräch kam, schienen zurück, nicht vorwärts zu denken. Das erinnerte mich an die alte Geschichte von dem Arbeiter, der beim sowjetischen Arbeitsamt um Beschäftigung vorspricht.
»Wo sind Sie geboren?« fragt man ihn.
»In St. Petersburg.«
»Wo wurden Sie erzogen?«
»In Petrograd.«
»Wo wohnen Sie?«
»In Leningrad.«
»Wo möchten Sie arbeiten?«
»In St. Petersburg«, seufzt er.
Gleich, wenn wir uns am Morgen trafen, erzählte mir meine Führerin, was sie für den heutigen Tag für uns beide geplant hatte. Vorschläge meinerseits stießen auf Mißbilligung und unüberwindliche Gegenargumente. Sie setzte ihren Willen immer durch — das heißt fast immer. Wenn sie mich abends wieder der liebenden Obhut des Hotelportiers übergab, warf sie ihm einen Blick zu, der unmißverständlich besagte, er sei dafür verantwortlich, daß ich bis zum anderen Morgen hübsch brav bliebe.
Schließlich hatten wir alles abgeklappert, was auch nur den leisesten Schimmer des Interessanten aufwies, und immer hatte ich noch einen ganzen Tag Leningrad auf meinem Rundreisebillett. Die Führerin schlug eine Brotfabrik, eine Spinnerei, ein Gesundheitsamt und einen Kindergarten vor. Ich winkte ab.
»So — und was wollen Sie morgen tun?« fragte sie verdrossen.
»Nichts«, erwiderte ich nicht weniger verdrossen.
»Na, von mir aus!« sagte sie achselzuckend, als sie aus dem Hotel ging. »Auf jeden Fall werde ich morgen früh nachhören, ob Sie es sich vielleicht anders überlegt haben.«
Mit dem »Nichtstun« war es mir in Wirklichkeit nicht so ernst gewesen. Ich wollte sogar unbedingt noch etwas ganz Bestimmtes tun — aber nicht mit einer Intourist-Führerin. Bevor ich aus Amerika wegfuhr, hatte mich eine alte Freundin unserer Familie, die Tochter eines zaristischen Admirals, gebeten, doch auf der Durchreise einen Blick auf ihren ehemaligen Familienbesitz in Tarchowka am Finnischen Meerbusen, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Leningrad, zu werfen. Sie hatte mich auf einer Cocktail-Party danach gefragt, und wie die meisten Bitten auf Cocktail-Partys wurde auch diese unter den üblichen Floskeln mit einer korrekten Verbeugung gewährt.
»Ich zeichne Ihnen genau auf, wo die Villa liegt«, sagte sie eifrig, nach einer Papierserviette und ihrem Lippenstift greifend. »Und wenn Sie schon hingehen, könnten Sie auch mal im Rübenkeller nachsehen, ob das Familiensilber noch da ist. Wir mußten es vergraben, als wir nach Finnland flüchteten.«
Ich erwiderte, daß ich in Rußland zwar hauptsächlich eine diplomatische Karriere und keine vergrabenen Schätze suchen wolle, aber selbstverständlich mit dem größten Vergnügen bereit sei, außerdem noch nach dem Silber zu sehen.
Ich war keine zehn Minuten in Leningrad, als mir aufging, daß ich einen gräßlichen Fehler begangen hatte. Normalerweise würde ich mich nur zu gern um den Besitz eines Freundes gekümmert haben. Nichts erscheint ja auch natürlicher, als hinzufahren und sich den Zustand des Hauses anzusehen, in dem Freund X oder Y geboren ist. Aber in Rußland war das irgendwie anders. Die ganze Umgebung, die Intourist-Führerin, der Portier, die auffallend unauffällig gekleideten Männer in Hotelhalle und Korridoren — alles das deutete darauf hin, daß private Ausbrüche aus dem Intourist-Reservat nicht zu empfehlen waren.
Ich war nicht der einzige, der so empfand. Einer der ersten amerikanischen Gesandten in St. Petersburg hatte in einem Bericht an das State Department ausgeführt:
»Nichts verblüfft einen Amerikaner bei seinem ersten Eintreffen hier mehr als die Härte und Rücksichtslosigkeit der Polizei. Man könnte meinen, die Hauptstadt befinde sich im Belagerungszustand.«
Das war 1856.
Es war also keine Sowjeterfindung, obgleich die Kommunisten sie gewiß vervollkommnet hatten. Auch mit der russischen Seele hatte es nichts zu tun. Falls man ihm nur die Gelegenheit und ein paar Wodkas gibt, schüttet einem der Durchschnittsrusse sein Herz aus, bis man im Kummer fast ertrinkt. Er wird einem jede Kleinigkeit aus seinem Leben erzählen, angefangen vom Stammbaum der Pferde seines Großvaters bis zu den spannendsten Intimitäten aus dem Liebesieben seiner Freundin. Wahrscheinlich schüren alle patriarchalischen Regierungen — zaristische wie bolschewistische — aus guten Überlegungen heraus die Fremdenfeindschaft, weil sie der Ansicht sind, wenn der Russe seinen Mund einfach nicht halten kann, dann müsse eben die Regierung dafür sorgen, daß nicht zu viele Ausländer da sind, die sich die intimen Details des russischen Alltags anhören.
Aber diese Erwägungen lösten mein Silberproblem nicht. Als mich die Intourist-Dame beleidigt verlassen hatte, hockte ich in meinem Hotelzimmer verärgert vor der Papierserviette und zerbrach mir den Schädel, was nur zu machen sei. Daß es einen Zug von Leningrad zur finnischen Grenze gab, der in Tarchowka hielt und vom Finnischen Bahnhof abfuhr, hatte ich bereits herausgefunden. Aber — wie sollte ich an ein Billett kommen? Ja, wie kam ich nur allein aus dem Hotel heraus? Angenommen, ein Bahnpolizist erkundigte sich nach meinen Absichten? Sollte ich antworten, ich wolle nur eben ein paar vergrabene Schätze kontrollieren? Das würde selbst einem Schaffner der pennsylvanischen Eisenbahn komisch vorgekommen sein. Anderseits, was sollte ich der Admiralstochter erzählen, wenn sie mich nach meiner Rückkehr (die an jenem Abend sehr nahe vor mir zu liegen schien) fragte, ob ich etwas in der Villenangelegenheit unternommen hätte? Schließlich konnte ich es doch nicht schlankweg verneinen. Wie sollte sie sich nach zwanzig Jahren Amerika noch an das Funktionieren von Polizeistaaten erinnern oder an den Fremdenhaß und die bedrückende Atmosphäre, die allen Ausländern in Rußland das Gefühl gibt, unendlich weit von daheim fort zu sein? Am anderen Morgen schrillte das Telefon in meinen besten Schlaf. Die Intourist-Führerin erkundigte sich, ob ich meine Absichten vielleicht geändert hätte. Ob ich nicht doch das Institut sehen möchte, durch welches die Regierung die Geschlechtskrankheiten ausrotte? Oder den Kindergarten, wo die Regierung schöne Babys aufziehe? Oder die Brotfabrik, in der die Regierung besseres Brot herstelle? Ich beantwortete jeden Vorschlag mit einem bissigen »Nein« und erklärte ihr zum Schluß kategorisch, ich gedächte den ganzen Tag über im Bett zu bleiben und hoffe nur, daß Gott und der Schlaf mein Wohlbefinden ohne Hilfe von außen wiederherstellen würden. Als ich den Hörer auflegte, war ich fest entschlossen, allein schon der Führerin zum Trotz nach Tarchowka zu fahren und möglichst sogar den Silberschatz im Rübenkeller auszubuddeln. Zu gern hätte ich ihr Gesicht gesehen, wenn ich ihr am Abend eine Tasche voll Silber und Juwelen unter die Nase halten und so ganz nebenbei bemerken könnte, ich hätte es irgendwo in der Stadt aufgelesen oder unter meinem Bett gefunden.
In der Halle zankte sich der Portier mit ein paar angetrunkenen Matrosen herum, die allem Anschein nach ein Zimmer verlangten. Ungesehen schlüpfte ich aus der Tür.
Am Finnischen Bahnhof herrschte ein strudelndes Gewoge ein- und ausströmender Menschen. Meist waren es Bauern mit großen Säcken auf den Schultern, Bastschuhen, schweren, schmierigen Mänteln, Schals und Pelzkappen, deren Ohrenwärmer oben zusammengebunden waren. Zum erstenmal sah ich einen russischen Bahnhof und war rundum verwirrt. Auf mysteriöse Weise fand ich sogar den richtigen Schalter, wo ich etwa eine Stunde lang wartend anstand. Ich vertrieb mir die Zeit damit, mir selbst vorzureden, daß der Gestank in Wirklichkeit nicht halb so schlimm war, als es roch, und daß es schließlich nur eine harmlose Kombination von billigem Tabak und dem Schweiß war, den das in der guten alten Zeit für die Peterhofer Springbrunnen verwandte Wasser noch nicht ganz weggewaschen hatte. Der Kartenverkäufer gab mir das Billett, ohne zu fragen, und der Zug stand schon da. Während der ganzen Warterei hatte ich mich ängstlich umgeblickt, voller Spannung, wie lange die Intourist-Dame brauchen würde, um die Geschichte mit der Bettruhe zu durchschauen, sofort Schatzgräberei zu vermuten und mich am Bahnhof abzufangen. Im Zuge setzte ich mich in eine unverdächtige Ecke. Der Schaffner kam, ich gab ihm meine Karte und zitterte vor Angst, er werde irgend etwas fragen und dabei herausfinden, daß ich ein Ausländer war. Aber er nahm das Billett nur und nickte schweigend. Ein kleiner Betteljunge in zerlumptem, viel zu weitem Anzug kam ins Abteil, lüftete seine Kappe und verkündete seine Bereitschaft, jeden, der unterhalten zu werden wünschte, mit einem Lied oder einem Tanz zu erfreuen. (Wenigstens glaube ich, daß er das gesagt hat; verstehen konnte ich kaum ein Wort.) Er begann mit einer klagenden Volksliedmelodie, wobei er die großen blauen Augen im breiten, grinsenden, schmutzigen Gesicht rollte und sein langes gelbes, fettiges Haar beim Singen rhythmisch um die Schultern schlug. Darauf wandte er sich einer lebhaften Nummer zu und tanzte eine Art wilden Step. Meine Reisegefährten beeindruckte beides nicht, obwohl ihm der eine oder andere ein paar Kopeken gab. Plötzlich erspähte er meinen Hut in der Ecke. Bis zu diesem Augenblick war mir noch nicht aufgegangen, daß mein Hut längst allen verraten hatte, daß ich ein Ausländer war. Der Junge wies mit dem Finger darauf hin und rief »inostranjetz«, was, wie ich wußte, »Ausländer« heißt. Alle sahen mich an. Ich begann zu schwitzen. Bestimmt würde mich auf der nächsten Station einer bei der Bahnpolizei anzeigen, und ich würde arretiert und als Spion aus der Sowjetunion ausgewiesen werden. Es blieb mir nur noch eins übrig: den kleinen Bettler zu bestechen. Ich gab ihm eine Handvoll Rubel und bedeutete ihm mit einer Geste, weiterzugehen. Offenbar aber hatte ich die falsche Geste gewählt, denn er fing sein Repertoire von neuem an und hatte es erst halb erledigt, als ich auf einer Station »Tarchowka« las. Ich schlüpfte aus dem Zug, lief über die Geleise und schlug die kleine Straße längs des Finnischen Meerbusens ein, die der Lippenstift auf der Papierserviette vorschrieb.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag eine Reihe völlig verwahrloster Villen. Sie schienen zwar bewohnt zu sein, doch die Anzahl der glaslosen Fenster, der totale Mangel an Farbe und der Gesamtzustand äußerster Vernachlässigung wiesen darauf hin, daß die Besitzer oder Mieter ihr Einkommen nicht auf die Pflege ihrer Häuser verschwendeten. Einen halben Kilometer weiter fand ich, was ich suchte: ein Haus, größer als die anderen, von den Grundmauern bis zum Dach mit den Überresten eines einst sehr unübersichtlichen und zweifellos häßlichen, pfefferkuchenfarbenen Anstriches garniert; im Vorgarten ein steinerner Brunnen, vorn ein zerfallenes Pfefferkuchentor. Die Tochter des Admirals hatte mir jedes Detail genau beschrieben — bis auf die zwanzig Jahre rücksichtsloser Abnutzung.
Als ich so dastand und es anstarrte, ließ mich der Mut vom Morgen im Stich. Was nun? Es war unzweifelhaft bewohnt, und mir fiel absolut nicht ein, wie ich unauffällig ins Haus, geschweige denn in den Rübenkeller kommen könnte. Sollte ich dem Besitzer etwa erzählen, ich käme im Interesse des vorigen Besitzers, vom dem er es zweifellos «befreit« hatte? Und falls er das durchgehen ließe und mich gastlich umherführen würde, sollte ich dann etwa fortfahren: »Hätten Sie vielleicht etwas dagegen, daß ich mal schnell einen Blick in den Rübenkeller werfe? Meine Freunde haben dort ein paar Kleinigkeiten vergraben.« Und selbst wenn ich all das sagen wollte — wie würde er mein Englisch verstehen? Da kam eine Gruppe von Bauern um die Straßenbiegung hundert Meter weiter oben. Irgend etwas mußte schnellstens geschehen. Auf keinen Fall durften sie einen verdächtig aussehenden Ausländer hier am Ufer des Finnischen Meerbusens stehen und mit dem Daumen im Mund sehnsüchtig über das Wasser nach dem supergeheimen Marine-Stützpunkt auf der Insel Kronstadt hinüberstarren sehen. Ich konnte nur noch schleunigst den Pfad zum Haus einschlagen und so tun, als gehörte ich dahin.
Drinnen empfing mich nicht, wie ich halb erwartet hatte, ein Schwarm Pinkertonscher Detektive oder deren russischer GPU-Gegenstücke, sondern nur ein kleines Kind, das auf dem Fußboden mit einem Stoffhund spielte. Nicht umsonst habe ich einundzwanzig Nichten und Neffen. Noch ehe irgend jemand, das Kind und mich eingeschlossen, wußte, was los war, waren wir schon gemeinsam auf dem Boden ins Spiel vertieft. Das Kind schubste den Stoffhund gegen mein Gesicht und knurrte. Ich schüttelte den Kopf, brummte ängstlich und zog mich in die Ecke zurück. Wie lange das so weiterging, weiß ich nicht mehr, doch befand ich mich schließlich in der Küchentür. Im Unterbewußtsein hatte ich schon vorher Hammerschläge aus dieser Richtung kommen hören, war aber einzig darauf bedacht gewesen, das Kind zu beschäftigen, bis ich mir über meine nächsten Schritte im klaren war. Als ich jetzt durch die Tür blickte, sah ich, wie jemand einem neugelegten Fußboden den letzten Schliff gab. (Genau da, wo nach der Serviette die Tür zum Rübenkeller hätte sein sollen.) Aber jetzt war nicht der Moment, über Rübenkeller nachzudenken. Meine Lage war schon verzwickt genug. Der Mann erhob sich vom Boden. Ich erhob mich. Er war ein Riese — wenigstens kam er mir so vor. Sein Gesicht war breit, rot und bärtig. Den Hammer schlenkernd, kam er auf mich zu und sagte irgend etwas sehr Knappes auf russisch. Ich sagte »Hallo!«. (Was hätte ich unter den obwaltenden Umständen schon sagen sollen?) Er wiederholte seine Worte und erwartete offensichtlich eine Antwort. Ich sagte noch mal: »Hallo!« Er trat näher auf mich zu, den Hammer immer noch achtlos schlenkernd. Wieder sagte er etwas. Ich wollte das Thema wechseln und sagte »Guten Tag«, merkte aber gleich, daß es nicht anschlug. Aus den Augenwinkeln schielte ich auf den Hammer.
Er wollte gerade den letzten Schritt tun, um an mich heranzutreten, als plötzlich das Kind aus dem Nebenzimmer hereinstürzte, dann zwischen uns watschelte und mit einem lauten kindlichen Quieken mir den Hund vor den Bauch stieß. So schnell ich konnte, wich ich in das vordere Zimmer zurück, wobei ich keineswegs vergaß, den Stoffhund anzuknurren. Das Kind lief mir nach, als ich, laut bellend, rückwärts auf die Haustür zustolperte. Der Mann folgte uns beiden, doch hatte sich seine gerunzelte Stirn schon etwas geglättet. Ich erreichte die Tür, öffnete sie und war draußen aus dem Garten heraus, ehe einer auch nur »Jupp Stalin« hätte sagen können.
Sobald ich glücklich in meinem Hotel angelangt war, schrieb ich der Tochter des Admirals einen kurzen Brief und teilte ihr mit, daß zwar das Haus einen neuen Anstrich gebrauchen könnte, das Familiensilber jedoch, soweit ich es übersähe, sichergestellt sei.
Am gleichen Abend fuhr ich nach Moskau.